The Crow – Ultimate Edition
Viele gute Songs und ganze Alben der Musikgeschichte sind bekanntlichermaßen durch psychische Krisen oder gar Extremsituationen, Depressionen oder Verluste ihrer Schreiber entstanden — man denke beispielsweise an Eric Claptons “Tears In Heaven”, “Mensch” von Herbert Grönemeyer oder überhaupt an Kurt Cobain. Im Vergleich dazu ist die Praxis, sich über seine kreative Arbeit selbst zu therapieren, in der neunten Kunst der Comics weniger verbreitet (“Bataclan: wie ich überlebte” fällt mir hier als Beispiel ein).
Anfang der Achtzigerjahre hat der Amerikaner James O’Barr aber eben dies versucht, also, sich durch das Erzählen und Zeichnen einer Graphic Novel ein Ventil für seinen seelischen Schmerz und seine Wut zu verschaffen. Denn seine damalige Freundin wurde auf einem Gehweg in Detroit von einem betrunkenen Autofahrer zu Tode gefahren, und O’Barr gab sich die Schuld für den Vorfall selbst (und natürlich dem Fahrer des Vans, den er zwei Jahre später tatsächlich auch töten wollte — allerdings war der dann schon eines natürlichen Todes gestorben).
Als Ergebnis entstand damals die düstere Graphic Novel “The Crow”, deren Originalausgabe 1989 in fünf Teilen (“Pain”, “Fear”, “Irony”, “Despair” und “Death”) veröffentlicht und anschließend zum Gothic-Genre-Kult wurde.
Im Jahre 1994 kam die Geschichte dann auch noch ins Kino, mit Bruce Lees Sohn, Brandon Lee, in der Hauptrolle und einem weiteren tragischen Tod in der ganzen Geschichte. Denn noch vor Abschluss der Dreharbeiten kam Lee ums Leben, so dass ein kleiner Rest seiner Rolle mit Hilfe von Doubles, Ausschussmaterial und Computertricks realisiert werden musste. Und mit diesem Unfall hatte O’Barr übrigens erneut den Tod eines Freundes, den er mitunter sogar als „kleinen Bruder“ bezeichnete, zu beklagen. Erneute Schuldgefühle, Depressionen und Drogenmissbrauch waren die Folge.
Im südhessischen Comic-Verlag dani books erscheint nun auf 272 Seiten und mit Hardcover eine vollumfängliche “Ultimate Edition” von “The Crow” in deutscher Sprache. Doch bevor wir uns dem Buch selbst widmen und schließlich auch der Frage, ob es gute Gründe gibt, die für diese Neuausgabe sprechen, soll für alle, die “The Crow” noch nicht kennen, kurz erklärt werden, worum es in der Geschichte geht.
Die Story
Eigentlich ist “The Crow” eine Liebesgeschichte, in deren Zentrum Eric und seine Freundin Shelly stehen. Gerade als die beiden ihre Verlobung feiern wollen, werden sie von einer Horde zugedröhnter Gangster überfallen, misshandelt und hingerichtet. Ein Jahr später — und hier setzt die Erzählung erst auf — kehrt Eric als so etwas wie ein Untoter zurück:
“Ein zwei Meter großer Vampir”, der “von Kopf bis Fuß in Schwarz steckt”, mit “Haut so fahl wie Asche” und “rabenschwarzen Haaren, die hoch stehen wie ein Heuhaufen” — ein “echt gruseliges Aussehen” — so wird er von Augenzeugen beschrieben.
Der wichtigste Punkt bezüglich seiner neuen Gestalt ist aber: Er ist eigentlich ja schon gestorben und deswegen quasi unverletzbar. Und diesen Vorteil nutzt er für einen blutigen Rachefeldzug gegen ihre damaligen Mörder: Tin Tin, Top Dollar, Tom Tom, Funboy und T-Bird — und alle, die sich ihnen anschließen oder sich ihm in den Weg stellen.
“The Crow” ist also nicht nur eine Liebesgeschichte — schon gar keine gewöhnliche, sondern auch ein großes, finsteres Gemetzel. Das alles aber eben angetrieben von der großen Liebe zwischen Eric und Shelly. Immer wieder werden Rückblenden an die glückliche Zeit vor dem Überfall eingeworfen, Erinnerungen auf hellen Seiten, die dann aber unweigerlich wieder von der von Schwarz dominierten Gegenwart eingeholt werden.
Mit dem Bewusstsein, dass der Autor sich hiermit damals seine dunklen Gedanken von der Seele gezeichnet hat, ist “The Crow” wirklich schwere Kost für den Leser. Zur Erinnerung: O’Barrs Verlobte kam ums Leben, als sie auf dem Weg zu ihm war — sie alleine also. Seine sich selbst repräsentierende Figur Eric lässt er hier dagegen ebenfalls sterben, dabei noch das Martyrium, das seine Liebe durchleiden muss, mit ansehen und anschließend auch noch in einer Art Übergangszustand weiter existieren. Das lässt ansatzweise erahnen, dass der Schmerz tatsächlich überwältigend stark gewesen sein muss.
Ultimate Edition?
Doch warum denn nun die neue Ausgabe? Bietet sie — mal abgesehen davon, dass sie alle Einzelteile vereint — wirklich einen Mehrwert? Das kann man, denke ich, bejahen. Argumente für das neue Buch liefern sowohl der Autor als auch der Verleger, Jano Rohleder:
Zum einen umfasst das Buch tatsächlich 30 Seiten, die bislang aus verschiedenen Gründen unveröffentlicht waren. Manche wurden damals einfach weggelassen, um eine bestimmte Seitenzahl für den Druck zu erreichen, manche Szenen erschienen O’Barr damals, auch aus Respekt vor dem “Mädchen, das Shelly war”, einfach zu persönlich für eine Veröffentlichung. Dabei mussten die Zeichnungen tatsächlich an Hand von verblassten Kopien neu angefertigt werden, da die Originalseiten nicht mehr vorhanden waren — alles in alter Manier mit Tusche auf Papier, wie der Künstler nicht ohne Stolz anmerkt.
Darüber hinaus wurde diese neue Fassung von Jano Rohleder komplett neu aus dem Englischen übersetzt — und zwar in enger Abstimmung mit O’Barr, so dass sowohl der Sinn der Slang- und Szene-Ausdrücke, als auch der vom Autor beabsichtigte Ton adäquat wiedergegeben werden dürften. Einige spezielle Begriffe und Hintergründe werden im Appendix erläutert. Hier hätte ich mir allerdings gewünscht, dass die Ausdrücke jeweils mit einem Sternchen gekennzeichnet worden wären, so dass man auch direkt weiß, dass man im Anhang Infos dazu findet.
Das Drumherum
Die Story ist hier und da durch einzelne Zeichnungen und Lyrik von Rimbaud, Baudelaire und anderen — teils auch von O’Barr selbst — angereichert. Dazu gibt es am Schluss auch noch eine Galerie der (farbigen) Cover der Original-Ausgaben.
Im Vorwort erklärt der Autor einige interessante Hintergründe. Außerdem gibt John Bergin noch eine ergreifende “Einführung” in den “einsamen Ort”, an dem der Autor diese Geschichte geschrieben hat. Bergin hatte mit seiner Industrial-Band Trust Obey und in Zusammenarbeit mit O’Barr den Soundtrack “Fear and Bullets” herausgebracht, der 1994 einer auf 1.500 Exemplare limitierten Ausgabe der Graphic Novel beilag.
Überhaupt spielte Musik übrigens eine gewisse Rolle in der Entstehungszeit von “The Crow”. Einige Bands aus Industrial, Gothic, New Wave, Punk und Post Punk — The Cure, Pitchshifter, The Comsat Angels usw. — sind in den Danksagungen aufgeführt. Auf einer Seite sind sogar die Lyrics von “Decades” der britischen Depri-Post-Punks von Joy Division abgedruckt.
Fazit
Die ursprüngliche Veröffentlichung liegt nun ja schon recht lange zurück. Es mag daher sicherlich einige geben, die die Geschichte noch gar nicht kennen. Einige andere kennen möglicherweise nur den Film (oder eine der eher nicht zu empfehlenden Fortsetzungen). Jeder und jede von ihnen sollte “The Crow” gelesen haben — es sei denn man hat ein wirklich arges Problem mit der Brutalität.
Diese Ultimate Edition ist dazu rundum gelungen. Lesen! Den Schmerz fühlen! Schlucken! … und dazu den erwähnten Soundtrack “Fear and Bullets” laufen lassen!
Eine Leseprobe findet ihr auf der Verlagsseite zum Buch bei dani books.
(Ein Hinweis noch für Sammler: Neben der hier besprochenen Standardausgabe wird auch noch eine auf 222 Exemplare limitierte Ausgabe und eine auf 66 Exemplare limitierte Kunstleder-Ausgabe angeboten.)Viele weitere Comic-Reviews findest Du übrigens in unserem alphabetischen Index…