Berlinoir
Eine Großstadt in Deutschland, ein Stadtstaat quasi – allerdings in einer alternativen Realität. Wolkenkratzer stehen dicht gedrängt. Eine etwas düstere Szenarie. Zwischen den Häusern von Berlinoir sind immer wieder Zeltdächer bzw. Sonnensegel gespannt, was ganz einfach damit zu tun hat, dass die Stadt von nachtliebenden, eben weniger sonnenhungrigen Vampiren regiert wird.
Dabei leben die Menschen und die Blutsauger in einem Pakt miteinander. Die Vampire fallen nicht einfach über Menschen her und saugen sie aus, außerdem sorgen sie auch noch für Arbeit und einer sichere Rente. Im Gegenzug sind die Menschen allerdings dazu verpflichtet, regelmäßig Blut zu spenden, um so den Durst der Vampire zu stillen.
Nicht jeder Mensch sieht in dieser Situation etwas Gutes und gibt sich damit zufrieden. So gibt es eine Widerstandsgruppe um “Vater Zebaoth” und den Protagonisten der Geschichte Niall, der zwischen Held und Anti-Held schwankt. Ziel der Gruppe ist natürlich, möglichst viele Vampire um die Ecke und so die Herrschaft ins Wanken zu bringen…
In diesem Rahmen erzählen Reinhard Kleist (“Der Boxer”, “Castro”, “Cash”) und Tobias O. Meißner verschiedene Geschichten zwischen Politik und Liebe, Widerstandskampf und Krimi. Besonders interessant sind allerdings die Parallelen zur deutschen Geschichte, die immer wieder gezogen werden. Die Bilder der in Scharen auf die Blutentnahme wartenden Menschen erinnern an Konzentrationslager und die Anschläge auf die Herrschaftsriege der Vampire an Widerständler in der Zeit des Nationalsozialismus.
Es geht aber vor allem um die Geschehnisse in Berlin und der DDR bzw. Deutschlands im Gesamten. Wer von Brandenburg kommend ins Stadtgebiet möchte, muss z.B. zunächst über die Grenze (“Sie verlassen den sterblichen Sektor”). Und schließlich kommt es auch zur Teilung der Stadt in Nord- und Süd-Berlinoir, zum Mauerbau (inkl. Soldat, der im letzten Moment noch flüchtet), usw.
Zwischen 2003 und 2008 erschienen die drei Kapitel des Buches (“Scherbenmund”, “Mord!” und “Narbenstadt”) bereits als separate Bände. Nun also erstmalig als überarbeitete Gesamtausgabe in einem schön gestalteten Hardcoverbuch (A4-Größe). Die Zeichnungen von Kleist sind düster und geheimnisvoll, erwartungsgemäß großartig und auch die zahlreichen Actionszenen sind wirkungsvoll umgesetzt.
Die ganzen üblichen Vampir-Elemente sind irgendwie dabei. Und trotzdem ist „Berlinoir“ keine klassische Vampir-Story – wer eine solche erwartet, wird wohl enttäuscht sein.
Trotzdem sind die Geschichten spannend und rührend – und werfen vor allem die Frage auf, ob Sicherheit oder Freiheit das höhere Gut ist. Besonders macht es aber Spaß, all die Gemeinsamkeiten der fiktiven und unserer realen Geschichte, zwischen Berlin und ihrem “Parallelwelt-Pendent” (herrlich z.B. auch der Berliner Bär mit Vampirzähnen), zu entdecken. Insgesamt eine sehr zu empfehlende Graphic Novel.Viele weitere Comic-Reviews findest Du übrigens in unserem alphabetischen Index…