Joe Hill: Im tiefen, tiefen Wald
Eigentlich unvorstellbar… Seit den 1960er-Jahren brennt es im Untergrund von Centralia im Kohlerevier im Osten Pennsylvanias. Nachdem die Kohleflöze aus nicht ganz geklärten Umständen in Brand geraten waren, wurden zwar schon einige Versuche unternommen, das Feuer zu löschen oder zu ersticken. Es blieb aber bei Versuchen. Seit dem sind Straßen aufgeplatzt, haben sich plötzlich Löcher im Boden aufgetan und ist die Einwohnerzahl der Gemeinde gegen Null geschrumpft. Und nun haltet euch fest: Man geht davon aus, dass das Feuer noch bis zu 200 Jahre weiter schwelen könnte. Wirklich kaum zu glauben…
Diese aber wahre Begebenheit hat die Autorin Carmen Maria Machado zu ihrem Comic “Im tiefen, tiefen Wald” (Originaltitel: “The Low, Low Woods”) inspiriert, die Joe Hill als dritten Titel der von ihm kuratierten “DC Black Label”-Reihe namens “Hill House Comics” ausgewählt hat. Ende des gerade vergangenen Jahres ist das Buch in deutscher Ausgabe bei Panini erschienen. Nach dem etwas schwarz-humorigen Anfang der Reihe von Hill selbst (“Ein Korb voller Köpfe”), dem komplexen und eher klassischen “Das Puppenhaus”, ist diese Geschichte wieder ganz anders: Modern, gesellschaftskritisch und trotz der zum Teil ebenfalls phantastischen Begebenheiten wieder zu einem gewissen Teil auch traurig realistisch.
Im Zentrum stehen die beiden Freundinnen Octavia und Eldora, genannt “Vee” und “El”, die in einem fiktiven Örtchen namens Shudder-To-Think (deutsch: “beim Gedanken erschaudern”) aufwachsen. Wie Centralia ist Shudder-To-Think ein Ort im Rust Belt der USA, unterhalb dessen es brennt. Wie in der realen Vorlage hat der allgegenwärtige Ruß jede Menge gesundheitliche und schließlich auch wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung. Dazu leiden die Frauen der Gegend unter “umweltbedingter Demenz”, wie die Ärzte vermuten.
Die Story setzt mit einer Szene im Kino auf, wo sich Vee und El einen Film angesehen haben. Naja, zumindest wollten sie das, denn sie haben praktisch den gesamten Film verschlafen und wachen erst pünktlich zum Abspann wieder auf. Der Film war sicher nicht der größte Kassenschlager. Schließlich waren sie alleine im Saal. Aber kann er wirklich so langweilig gewesen sein? Außerdem: Warum hat Octavia plötzlich Dreck an den Schuhen? Jedenfalls werden sie das Gefühl nicht los, dass sie nicht einfach eingenickt sind, dass mehr geschehen sein muss. Als wäre das nicht verwirrend genug, haben sie auf dem Nachhauseweg mit dem Fahrrad durch den Wald auch noch eine erschreckende Begegnung mit einer seltsamen Gestalt…
Das Buch enthält die Einzelausgaben 1 bis 6 des amerikanischen Originals zusammen mit ein paar ganzseitigen Variant-Covers und den Kurzbiographien der beiden Macherinnen. Neben der amerikanischen Autorin Machado, die bisher übrigens vor allem Kurzgeschichten veröffentlicht hat und hiermit nun ihr Comic-Debüt abliefert, ist das die griechische Zeichnerin Dani Strips, die von Machado mit Bildmaterial aus dem Pennsylvania der Neunziger versorgt wurde, um die Szenerie originalgetreu abbilden zu können. Ihre Zeichnungen sind zu einem großen Teil ziemlich grob und skizzenhaft. Das kommt der mysteriösen Geschichte aber eher zugute. Dazu sind die Farben von Tamra Bonvillain absolut stimmig.
“Für Freunde von Stranger Things”, schreibt Panini-Redakteur Christian Endres zur Einstimmung im Vorwort. Allerdings würde ich diesen Vergleich nicht uneingeschränkt so stehen lassen wollen. Natürlich, wie die beliebte Netflix-Serie spielt auch “Im tiefen, tiefen Wald” ein bisschen mit Nostalgie aus dem letzten Jahrtausend (hier der Neunziger), und auch hier scheint etwas im Untergrund unter der Stadt zu schlummern. Schließlich stehen auch noch Heranwachsende im Mittelpunkt der Handlung. Hier und da gibt es also durchaus Parallelen zu “Stranger Things” — oder auch zu “Paper Girls” (gerade optisch!). Im Grunde erwartet den Leser aber doch etwas ziemlich Anderes. Weder kommt bei “Im tiefen, tiefen Wald” wirklich ein “Stand By Me”-Abenteuer-Gefühl auf, wie das bei der Hawkins-Clique der Fall ist, noch ist hier die geringste Dosis Humor zu finden.
Nein, “Im tiefen, tiefen Wald” ist absolut ernst und lässt erkennen, dass es der Autorin wichtig ist, nicht nur zu unterhalten, sondern auch Themen ins Gespräch zu bringen, die ihr am Herzen liegen. Ihre zwei Hauptfiguren sind Mädels, die auf Mädels stehen, und sexueller Missbrauch ist auch ein großes Thema. Die Szenerie nutzt sie außerdem, um auch die schwere Situation der Leute im Kohlerevier zu beschreiben, nachdem die goldenen Zeiten im Manufacturing Belt der USA vorbei waren.
Die Atmosphäre, die der Comic erzeugt, wirkt durchaus bedrückend und luftabschnürend. Insofern müssen die Autorin und die Zeichnerin natürlich schon einiges richtig gemacht haben. Allerdings muss ich auch gestehen, dass mich das Buch so richtig nicht überzeugen konnte. Die Story tut sich aus meiner Sicht schwer damit, die Verbindung der sehr realen Kernthemen der Geschichte mit den Mystery-Elementen plausibel zu verbinden.Viele weitere Comic-Reviews findest Du übrigens in unserem alphabetischen Index…